Der irritierte Grenzsoldat: Willy Brandt ohne Personalausweis

Gründungsvorsitzender von Gegen Vergessen – für Demokratie zu Gast in Mörfelden-Walldorf

Auf Einladung der RAG Rhein-Main und der Stadt Mörfelden-Walldorf beendete Hans-Jochen Vogel am 3. November 2010 im Bürgerhaus Mörfelden die von der  Stadtverordneten-versammlung Ende 2009 beschlossene Veranstaltungsreihe   „20 Jahre Mauerfall, friedliche Revolution und Wiedervereinigung“ mit einem eindrucksvollen Referat.  Seine Schilderung der Ereignisse am 9. November 1989 und in den Tagen und Wochen danach und seine Bewertung des gesamten Wiedervereinigungsprozesses fesselten die Anwesenden. Auch die Journalisten zog er in seinen Bann: die Resonanz war durchweg positiv und voller großer Anerkennung – inhaltlich und in der Form. Sein Alter sähe man ihm nicht an, schrieben gleich mehrere  Zeitungen. Souverän, flüssig und immer druckreif formuliere er noch immer seine Gedanken.
Hans-Jochen Vogel erinnerte an die große Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus am 10. November 1989,  bei der Willy Brandt den denkwürdigen Satz sprach „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“. Details hat er nicht vergessen: Als Willy Brandt und er  am 10. November 1989 die Grenze nach Ost-Berlin passieren wollten, sei der Grenzpolizist, „dessen Vorstellungskraft angesichts der Menschenströme, die den Übergang in beiden Richtungen querten, wohl ohnehin schon zusammengebrochen war, in zusätzliche Verlegenheit“ (Vogel) gekommen: Willy Brandt hatte keinen Personalausweis dabei! Hans-Jochen Vogel habe ihm erklärt,  sie kämen als Präsident und Vizepräsident der Sozialistischen Internationale. Nach einigen Minuten, in denen der irritierte Soldat offenbar mit seinem Vorgesetzten telefonierte „und zwischendurch immer wieder salutierend an unserem Wagen erschien“ , habe er beide schließlich durchgelassen.  „Wer - wie ich- diesen Übergang viele Male benutzt hatte, musste sich in die Nase kneifen, um sich selber zu vergewissern, dass er nicht träumte.“
Ist Willy Brandts Voraussage eingetroffen? Hans Jochen Vogel befasste sich mit einigen Aspekten. In ökonomischer Hinsicht sei der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft sehr viel schwieriger gewesen als es die meisten erwartet hätten. Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und Lebensverhältnisse insgesamt zeigten zwar erhebliche Angleichungsprozesse zwischen Ost und West. Aber es bedürfe noch weiterer Anstrengungen, um die vom Grundgesetz vorgesehene Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West zu erreichen.
Für im Ergebnis wichtiger als die wirtschaftliche Entwicklung hält er die Frage nach der Entwicklung des Bewusstseins in Ost und West.  Im Osten sei hier nach der zunächst vorhandenen Freude über das Zustandekommen der Einheit Ernüchterung eingetreten – bedingt durch die Härte des Transformationsprozesses und auch wegen bestimmter „Auswüchse“ des „angeblich marktwirtschaftlichen Gebarens“. So sei es vielfach auch zu einer Verklärung in Bezug auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR gekommen, zu der aber kein Anlass bestehe. Unterdessen hätten sich die Verhältnisse in den Bundesländern sehr weit angeglichen. Die Arbeitslosenquoten in einigen Großstädten in Nordrhein-Westfalen lägen sogar höher als in Städten gleicher Größe in den neuen Bundesländern. – Ein für ihn ganz besonders eindrucksvolles Beispiel des Zusammenwachsens sieht Hans-Jochen Vogel  im bundesweiten Engagement für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche und die „bundesweite Freude über das Gelingen  dieses großartigen, für die jüngere deutschen Geschichte so aussagekräftigen Projekts.“
Ein besonderes Problem des Zusammenwachsens von Ost und West sieht Hans-Jochen Vogel im Umgang mit der politischen Hinterlassenschaft des SED-Regimes – insbesondere dem von dieser Partei zu verantwortenden Unrecht. Der häufig von Seiten ehemaliger Verfolgter zu hörende Vorwurf, der Staat – insbesondere die Gesetzgebung und die Justiz – hätten versagt, will er sich nicht anschließen, denn  anders als nach 1945 in der alten Bundesrepublik seien beispielsweise auch Richter , die während der SED-Herrschaft exzessive Urteile gefällt haben,  zur Verantwortung gezogen worden. Insofern sei es schon bemerkenswert, „dass nun gerade Leute die Rechtsauffassung des Bundegerichtshofes als Siegerjustiz kritisieren, die sich seinerzeit über die Schonung der NS-Richter laut empört haben.“ - Unbefriedigend sei allerdings bis in die jüngste Zeit hinein die Regelung der materiellen Wiedergutmachung der Opfer der SED-Diktatur. Die Aufbewahrung der Stasi-Unterlagen und die Einrichtung der Behörde hält Hans-Jochen Vogel nach wie vor für eine richtige Entscheidung. Wären die Akten vernichtet worden, hätte das seines Erachtens nur dazu geführt, „dass alles im Ungewissen geblieben wäre und die geschlagenen Wunden noch weiter geeitert hätten.“
Die historische Erinnerungsarbeit  –  auch in Bezug auf die zweite Diktatur auf deutschem Boden – sei nach wie vor eine  unverzichtbar wichtige Aufgabe in Deutschland, „um den nachfolgenden Generationen vor Augen zu führen, wo es endet, wenn Menschen die Selbstbestimmung und die Freiheit genommen, zu ihrer Unterdrückung Gewalt angewendet, die Prinzipien der Demokratie missachtet und die Gesellschaft mit einem Spitzelsystem überzogen wird.“
Hans-Jochen Vogel beendete seinen Vortrag mit etwas – wie er sagte – „heutzutage  eher  Seltenem“ – nämlich einem „Wort der Dankbarkeit“. Wer am 8. Mai 1945 vorausgesagt hätte, welche Entwicklung Deutschland im Westen in den 50er, 60er und 70er Jahren und in den 80er Jahren bis hin zur deutschen Einheit  („ohne einen Schuss und ohne eine  Tropfen Blut“) nehmen würde, den hätte man für verrückt erklärt.
Es ist die große innere Sicherheit im Urteil über die deutsche Geschichte, gepaart mit diesem Optimismus,  die zu der großen Überzeugungskraft führt, die Hans-Jochen Vogel ausstrahlt und die die Zuhörer mit großem Beifall bedachten.
Klaus Müller ist stellvertretender Sprecher der RAG Rhein-Main.