„Eine Geschichte, die immer zu allen Menschen spricht“

Internationale Wanderausstellung  „Anne-Frank  – eine Geschichte für heute“  Ende 2010 in der Schlosskirche in Darmstadt gezeigt – Über 4.000 Besucherinnen und Besucher

Klaus Müller

Nach einem knappen Jahr intensiver Vorarbeit konnte am 7. November 2010 die deutsche Fassung der internationalen Wanderausstellung „Anne Frank – eine Geschichte für heute“ in der Darmstädter Stadtkirche eröffnet werden. Die Ausstellung war für viereinhalb Wochen bis zum 8. Dezember 2010 in der gerade sanierten Schlosskirche in Darmstadt zu sehen. In diesem Zeitraum haben über 2.000 Jugendliche die Ausstellung besucht – begleitet von insgesamt 31 jugendlichen „Guides“. Weitere über 2000 Interessierte haben die Ausstellung an Nachmittagen und an den Wochenenden gesehen. Ergänzt wurde die Ausstellung um ein beachtliches Rahmenprogamm. Das gesamte Projekt stand unter der organisatorischen Leitung der RAG Rhein-Main.

Eröffnung am 7. November 2010 mit Joachim Gauck –  ein herausragendes Ereignis für Darmstadt

Die Ausstellung begann mit einer sehr feierlichen Eröffnungsveranstaltung an einem Sonntagnachmittag. Schon eine gute halbe Stunde vor Beginn war die Kirche mit rund 600 Menschen voll besetzt. Umrahmt  von musikalischen Beiträgen von Schülerinnen und Schülern aus Darmstadt lasen zwei Schülerinnen  aus dem Tagebuch der Anne-Frank und die Darmstädter Schriftstellerin Katja Behrens las,  mit Unterstützung des ehemaligen Oberbürgermeisters Peter Benz, aus ihrem Buch „Der kleine Mausche aus Dessau“ . „Ich werte diese voll besetzte Kirche als Zeichen, dass Demokratie und Freiheit in Darmstadt selbstverständlich sind,“ sagte der Direktor des Berliner Anne-Frank-Zentrums, Thomas Heppener, in seiner Rede. Prominentester Gast war Joachim Gauck. Er spannte einen weiten Bogen von seiner persönlichen Begegnung mit dem Tagebuch der Anne-Frank in seiner Jugend in der DDR  über seine Sicht menschlicher Sehnsüchte nach Freiheit und Verantwortung („ Menschen müssen sich Verantwortung nicht antrainieren, sie ist eine Gabe, die wir besitzen“) bis zu dem, was Anne Frank für uns heute bedeuten kann.  „Immer, wenn wir Anne Frank und dieser Zeit  begegnen, erfasst uns die Furcht vor unserer Geschichte.“ Aber er sagte auch: „ Wir sind die, die aus dem Blut, das unsere Vorfahren vergossen haben, nicht nur Tränen, sondern Verantwortung machen müssen.“  Mit seiner Rede hat Joachim Gauck an diesem Abend die Herzen und Sinne der Anwesenden getroffen, vor allem auch der vielen jungen Menschen, die in der Kirche waren.

Ausstellung in der Schlosskirche

Die Schlosskirche im Innenhof des Darmstädter Schlosses bot das geeignete Ambiente für die Ausstellung, die in der Pavillonvariante gezeigt wurde. Wochentags von 9.00 bis 15.00 Uhr war die Ausstellung für Schüler- und Jugendgruppen geöffnet, die sich jeweils vorher anmelden mussten. Sie hatten pro Gruppe zwei Stunden Zeit: für die Ausstellung selber und eine Gruppenarbeit in den Seminarräumen – mit Filmen, Kleingruppenarbeit und einer Evaluationsphase.  Nachmittags und an den Wochenenden war die Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich. Vor allem an den Wochenenden war der Andrang beträchtlich.

Der inhaltliche Aufbau der Ausstellung  und die Präsentation (Pavillons mit Dächern und Beleuchtung) sprechen unmittelbar an. Der Betrachter folgt von einem Pavillon zum nächsten dem Leben von Anne Frank – eingebunden  in die Geschichte ihrer Familie und zugleich auch in die Zeitgeschichte Deutschlands, der Niederlande  und ganz Europas. Die Ausstellung arbeitet sehr viel  mit anschaulichem Material, z.B. Bildern von Anne Frank und ihrer Familie. Und sie konfrontiert dieses Material mit Bildern und Texten, die die Verfolgung der Juden in Deutschland und den Niederlanden und schließlich ihre Ermordung dokumentieren. Ein besonderer Schwerpunkt liegt natürlich auf dem  Leben von Anne Frank, ihrer Familie und den anderen vier Versteckten im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263  vom 6. Juli 1942  bis zu ihrer Entdeckung am 4. August 1944. Man erfährt genau, wie diese Menschen dort gelebt und für zwei Jahre überlebt  haben und wie – unter diesen Umständen – Anne Frank dort ihre Tagebuch schreiben konnte, das faszinierend originalgetrau vorgestellt wird. Der letzte Teil der Ausstellung befasst sich mit dem Tod von sieben der Versteckten – einschließlich von Anne –und dem Überleben von Otto Frank, der  das Tagebuch nach langem Zögern der Öffentlichkeit zugänglich machte und der schließlich die Anne-Frank-Stiftung begründete. Auf den Rückseiten der Pavillons werden Lebensläufe von acht Menschen präsentiert, die aus ihrer Sicht zu Anne Franks Leben und Schicksal  Stellung beziehen – darunter z.B. Miep Gies, die das Tagebuch gefunden, aufbewahrt und nach dem Tod von Anne Otto Frank übergeben hat.

„Jugendliche begleiten Jugendliche“ – 31 Guides aus 9 Schulen führten durch die Ausstellung

Der Erfolg der Ausstellung im Hinblick auf die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern fußt zu einem großen Teil auf dem Konzept der Ausstellungsbegleitung, auf das in Darmstadt sehr großen Wert gelegt wurde:  „Jugendliche begleiten Jugendliche“. Es werden gleichaltrige Jugendliche ausgebildet, die die Rolle von Ausstellungsbegleitern übernehmen. Die Hoffnung: Schulgruppen,  die die Ausstellung besuchen, nehmen von Gleichaltrigen viel mehr an als von Erwachsenen. Die Probleme: Haben gleichaltrige Jugendliche die nötige „Autorität“? Und: Können sie überhaupt so vorbereitet werden, dass sie auch sachlich-inhaltlich bestehen können?

In Darmstadt ging das Konzept in jeder Hinsicht voll auf. Da die Ausstellung, was den Besuch von Schulgruppen anbetrifft, auf die ganze Stadt und den Landkreis Darmstadt-Dieburg ausgerichtet war, sollten auch „Guides“ aus diesem gesamten Bereich gewonnen werden. Dazu bedurfte es mehrerer Lehrerfortbildungsveranstaltungen – veranstaltet von der RAG Rhein-Main in Kooperation mit dem Staatlichen Schulamt,  um über die anwesenden Lehrerinnen und Lehrer Guides zu finden. 31 Guides aus neun Schulen aus den Jahrgängen 9 bis 12 wurden schließlich gefunden. Alle waren mit großem Spaß dabei – und alle würden es gerne noch einmal machen. Je sechs von Ihnen wurden am Tag benötigt – also 30 in der Woche. ,

Der erste Ausbildungstag der Guides wurde ganztägig in der Anne-Frank-Jugendbegegnungsstätte in Frankfurt durchgeführt. Die zwei weiteren Ausbildungstage fanden unmittelbar vor Beginn der Ausstellung statt – durchgeführt von zwei Teamern des Anne-Frank-Zentrums Berlin in der Schlosskirche. Die Guides wurden darauf vorbereitet,  die Schülergruppen  – aufgeteilt in Kleingruppen – durch die Ausstellung zu führen, bei Interesse einen Film zu zeigen und zu besprechen und in einer seminarähnlichen Form Probleme des Lebens der Familie Frank in der NS-Zeit sowie allgemeine historische Fragen, die sich ergaben, mit den Gruppen zu erörtern.

Die 31 Jugendlichen kannten sich zuvor nicht. Sie mussten in den Seminaren „zusammenwachsen“. Und: sie mussten lernen, sich jeweils von Tag zu Tag in anderen Konstellationen als Guides untereinander zu arrangieren. Da sie durch die Ausstellung führten, mussten sie auch lernen, sich notfalls auch gegenüber Lehrerinnen und Lehrern durchzusetzen, die es besser wissen wollten. Und auch das haben sie gelernt.

Am Ende jeder Führung mit einer Schülergruppe stand eine Evaluation: In fast allen Fällen endete sie mit einem großen Lob für diese Guides – und in Fragen wie diesen: Wie habt ihr euch das nur getraut? Warum wurden wir nicht gefragt? Und die Guides selbst? In der Schlussevaluation Mitte Dezember war die wesentliche Feststellung: Wir haben sehr viel an Selbstbewusstsein gewonnen.

Rahmenprogramm mit Höhepunkten

Wer Vieles bringt, wird Manchem etwas bringen: Das wurde letztlich die Konzeption des Rahmenprogramms der Darmstädter Anne-Frank-Ausstellung mit ca. 45 Veranstaltungen. Unumstritten war dieser Gedanke nicht, schließlich wollten wir nicht nur  interessante Veranstaltungen anbieten, sondern auch möglichst volle Säle haben! Erst Mitte September war das Rahmenprogramm endgültig fertig gestellt. In der gedruckten Fassung hatte es schließlich 68 Seiten (vgl. auch: www.annefrank-darmstadt.de). Nur ein Teil der Veranstaltungen  fand an Abenden statt, eine ganze Reihe an  Vormittagen in Schulen.  Auf diese Weise konnten neben dem Ausstellungsbesuch auch noch einmal viele Jugendliche an das Thema herangeführt werden. Man kann sagen, dass am gesamten Rahmenprogramm insgesamt über 2.000 Menschen teilgenommen haben.

Eine Zuordnung der Art Veranstaltungen zu bestimmten Bereichen ergibt etwa folgendes Bild (wobei es natürlich Überschneidungen gibt):
- 13 Veranstaltungen (Vorträge, Zeitzeugengespräche, etc.) mit einem  überwiegend historischen Schwerpunkt,
- 7 Veranstaltungen mit einem überwiegend politisch-aktuellen Schwerpunkt (auch mit interkulturell-religiösen Themen),
- 5 historisch ausgerichtete Stadtführungen an Wochenenden,,
-  6 Diskussionsveranstaltungen speziell für Jugendliche zu den Themenfeldern Demokratie und Menschenrechte, Gefahren des Rechtsradikalismus,  Antisemitismus und Rassismus heute ,
-  10 Theater- und Filmvorführungen .

Das Rahmenprogramm enthielt viele Höhepunkte. Wenn man aber eine Veranstaltung in den Mittelpunkt rücken wollte (das Highlight unter den Highlights) , dann war es die Lesung der Schriftstellerin Mirjam Pressler aus ihrem  Buch „Grüße und Küsse an alle – Die Geschichte der Familie Frank“ (Fischer-Verlag, Frankfurt, 2009)  im vollen  Rüdiger-Breuer-Saal der Jüdischen Gemeinde Darmstadt am 22. November. Die Trägerin höchster literarischer Auszeichnungen der Bundesrepublik las – unterstützt von Buddy Elias (dem Cousin von Anne Frank und letzten noch lebenden Verwandten) sowie seiner Frau Gerti, die extra aus Bern angereist waren. Diesen Abend wird niemand der Anwesenden je vergessen – in seiner Eindringlichkeit und – bei allem Schmerz – seiner Lebensfreude, die vor allem Gerti und Buddy Elias allen Anwesenden mitgaben.

Organisation, Sponsoren und der Trägerverein

Wir Organisatoren mussten damit fertig werden, dass es keinerlei hauptamtliche Unterstützung gab. Das Team, die „Steuerungsgruppe“, die sich im Laufe der Arbeit herausgebildet hatte, bestand schließlich aus neun Personen – darunter drei Studentinnen und Studenten und eine junge Magisterabsolventin, die das Organisationsbüro leitete. Das Büro wurde zu Beginn des  Monats Oktober eingerichtet und bestand bis Mitte Dezember 2010. Ohne die ganztägige Besetzung dieses Büros wäre die organisatorische Abwicklung des Projekts nicht möglich gewesen. Es mussten „Einsatzpläne“ für die 31 Guides erarbeitet und täglich auf Grund sich ändernder Umstände korrigiert werden. Es mussten ebenso „Einsatzpläne“  für das Beaufsichtigungs- und Betreuungsteam, auch etwa 25 Personen, erstellt werden. Hierbei konnte zum Teil auf das sogenannte Ehrenamt für die Stadt Darmstadt zurückgegriffen werden. Vor allem aber musste die Anmeldung für die Jugendgruppen und die Zusammenarbeit mit der TU Darmstadt, zu der die Schlosskirche gehört, den Hausmeistern, Sicherheitsdiensten u.a. organisiert werden.

Um das Projekt auf möglichst  breite Füße zu stellen, wurde ein Trägerkreis gegründet , dem schließlich 33 Organisationen angehörten, u.a. die Stadt Darmstadt, die Kirchengemeinden sowie die jüdische Gemeinde, der Jugendring und mehrere Organisationen der Darmstädter Kulturarbeit. Der Verein traf sich in unregelmäßigen Abständen und seine Mitglieder brachten zum Teil auch eigene Beiträge in das Rahmenprogramm ein.

Ganz wichtig und außerordentlich zeitaufwändig war die Suche nach Sponsoren. Je näher der Ausstellungsbeginn rückte, desto erfolgreicher waren wir. Im Jahresverlauf war es immer wieder nötig, finanzielle Zusagen einzugehen, obwohl wir das Geld noch nicht hatten! Es regierte das Prinzip Hoffnung. Aber wir wollten erfolgreich sein – und wir setzten darauf, dass wir es schon schaffen würden. Wir haben es geschafft. Das Gesamtprojekt hatte schließlich ein Ausgabenvolumen von 37.000.-€. Und mit den eingeworbenen Sponsorengeldern ist es uns gelungen, eine  „Punktlandung“ hinzulegen. Größter Sponsor war dabei die Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament mit 9.000.-€. Neben vielen kleineren Spenden – vor allem aus dem Bereich der Stadt Darmstadt -  erhielten wir große Unterstützungsbeträge von der HSE-Stiftung (Südhessisches Energieversorgungsunternehmen), der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Darmstadt, der Kulturstiftung des Deutschen Fußballbundes, der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung und dem Programm „Vielfalt tut gut“ des Bundesfamilienministeriums in Verbindung mit der Stadt Darmstadt. Alle Sponsoren und Unterstützer haben einen unverzichtbaren Beitrag zum Erfolg des Projekts geleistet.

Was bleibt?

An  nachprüfbaren Fakten kann man festhalten:
- Etwa 600 Menschen haben an der Eröffnungsveranstaltung am 7. November in der Stadtkirche teilgenommen,
- über 4.000 Menschen haben die Ausstellung gesehen,
- über 2000 Menschen haben an den Veranstaltungen des Rahmenprogramms teilgenommen,
- über ca. 6 Wochen hinweg wurde kontinuierlich in der Lokalpresse über die Ausstellung, die Rolle der Guides und das Rahmenprogramm berichtet,
- auch in der überregionalen Presse und im hessischen Rundfunk und im Fernsehen wurde mehrfach berichtet.

Die Ausstellung „Anne Frank – eine Geschichte für heute“ hat in Darmstadt viele Menschen in ihren Bann gezogen, ganz speziell Jugendliche. Die Besucherin M. Haase hat das in einer Notiz im Gästebuch, in das sich in Darmstadt Menschen auf immerhin 66 Seiten eingetragen haben,  so ausgedrückt: „Anne-Frank – das ist eine Geschichte, die immer zu allen Menschen spricht.“ In Darmstadt war das so. Und wenn Oberbürgermeister Walter Hoffmann im Rahmen der Ausstellungseröffnung zu Recht gesagt hat: „Hass auf Minderheiten hat in unserer Stadt nichts zu suchen“, dann hat die Ausstellung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass das so bleibt.

Klaus Müller ist stellvertretender Sprecher der RAG Rhein-Main von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.