RAG Rhein-Main, Sektion Südhessen: Vom Wert der Geschichten. Schüler der Lichtenbergschulen Darmstadt und Ober-Ramstadt sprechen mit Jugendbuchautor Peter Härtling über ihre Erfahrungen im Anne-Frank-Projekt.

von Bettina Bergstedt

Schülerinnen und Schüler befragten Jugendbuchautor Peter Härtling zu seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Tagebuch der Anne Frank und zu seinen Begegnungen mit Otto Frank, dem Vater der Anne Frank. Foto: Wolfgang Sachse

Warum haben Freunde und Nachbarn weggeschaut, als die Nazis Juden oder anders Denkende deportierten? Warum wurde das Versteck von Anne Frank preisgegeben? Wie konnte der Vater von Anne weiterleben, der seine Familie in den Konzentrationslagern der Deutschen verlor? Iris Kißner von der Lichtenbergschule Darmstadt hatte bereits von Hitler und dem zweiten Weltkrieg gehört, doch waren ihre Vorstellungen eher blass, was diesen Krieg betraf. „Mit Anne Frank bekam das Grauen für mich ein Gesicht“, sagt die Sechstklässlerin.

So wie Iris ging es wohl vielen Schülerinnen und Schülern, die an dem fächerübergreifenden Projekt „Anne Frank – eine Geschichte für Darmstadt“ teilnahmen, das bereits im Jahr 2010 seinen Anfang nahm. Eine Ausstellung in der Schlosskirche wurde organisiert, es gab verschiedene Projekte und einen breit angelegten Literaturwettbewerb. Eine mit Fotos und Texten schön ausgestattete Dokumentation mit Ergebnissen aus Schreibwerkstätten und Erfahrungsberichten wurde am 17. November 2011 in der Darmstädter Stadtkirche in feierlichem Rahmen vorgestellt. Als Ehrengast war der Jugendbuchautor Peter Härtling geladen.

Iris trug ihren von der Jury preisgekrönten Essay „Gedanken zur Anne Frank Ausstellung“ vor, Eric Belaja sein mit dem 1. Preis der Oberstufe ausgezeichnetes Gedicht „Lebenslust“, in dem er das Tagebuch der Anne Frank in seiner doppelten Funktion beschreibt: als Zuhörer und Tröster für das Mädchen in Zeiten größter Einsamkeit, und als etwas, das in unsere heutige Zeit hineinreicht, weil es berührt – auch jene, die eigentlich sagen könnten: das hat mit uns nichts mehr zu tun, wir waren ja noch nicht einmal geboren. Eine direkte Verbindung zur Gegenwart stellten Cindy Zhang und Selim Zillich-Ünal in ihren Texten her, indem sie die Themen Unfreiheit und Lebensbedrohung durch Krieg auf Heute bezogen: die Versklavung von Kindern durch Kinderarbeit (Cindy) oder das Erleben des Krieges eines schiitischen Jungen im Irak in Form eines fiktiven Tagebuchs.

Peter Härtling mahnte in den Zwischengesprächen mit Schülern an, nicht nur in der Ferne nach Parallelen zu suchen. Mobbing unter Schülern, das sich Definieren über Markenklamotten und oft grenzenloser Konsum sei ein Verhalten, das unter uns stattfände – und Ausgrenzung zur Folge hätte.

Dass es auch anders geht, zeigte das Stolperstein-Projekt aus Ober-Ramstadt, über das Schüler berichteten: die eintätowierte KZ-Nummer auf dem Arm des ehemaligen Ober-Ramstädter Bürgers Julius Bendorf, der als Jude Auschwitz überlebte, prägte sich in das Gedächtnis der Schüler mehr ein als jede Quelle aus dem Geschichtsbuch, so Eldar Numanovic. Carmen Kehr verwies auf die Offenheit und Freundlichkeit des 94-Jährigen, der zur Stolpersteinverlegung im Jahr 2010 aus den USA angereist war – und freundschaftliche Verbindungen über das Projekt hinaus knüpfte.

Geschichtsaufarbeitung zwischen Vergeben und Vergessen diskutierten die Teilnehmer einer Warschau-Studienfahrt, als sie in Majdanek spürten, wie virulent die Vorbehalte dort gegen die Deutschen immer noch sind. „Wir können etwas dafür tun, dass es so etwas nie wieder gibt“, lautete das Fazit. „Und dafür sind Geschichten gut“, so Härtling, „sie erzählen woher man kommt und sie zwingen einen, wenigstens für einen kurzen Moment innezuhalten.“

 

Der Artikel erschien zuerst am 19. November 2011 im Darmstädter Echo. Wir danken der Zeitschrift und der freien Journalistin Bettina Bergstedt für die freundliche Genehmigung der Verwendung.